Die Entdeckung der Langsamkeit
Die Entdeckung der Langsamkeit ist ein 1983 erschienener Roman von Sten Nadoldny, der seinem Protagonisten eine Langsamkeit zuschreibt, durch welche dieser immer wieder Schwierigkeiten hat, mit den alltäglichen Anforderungen des Lebens und seiner Geschwindigkeit klar zu kommen. Dennoch schafft es der Kapitän und Polarforscher John Franklin durch seine Beharrlichkeit und den Entschluss, sich der Langsamkeit zu verpflichten, zu einem großen Entdecker zu werden.
Der Roman hat seit seinem Erscheinen nicht an Aktualität eingebüßt. In einer Zeit, in welcher bei Aldi 86 Kunden pro Stunde einkaufen, die Deutschen im Jahr 225 Minuten fern sehen, die Informationsverarbeitung um 1010 % gestiegen ist und sich das Kommunikationstempo seit 1825 um das Zehn-Millionen-Fache und das Reisetempo um das hundertfache beschleunigt hat, verwundert es nicht, dass sich die Schlafzeit seither um zwei Stunden verringerte, 67 % der Deutschen ständige Hektik und Unruhe als Stress empfinden und der Umsatz von Beruhigungsmitteln, Schlafmitteln und Stimmungsaufhellern 2009 bei 14,5 Mio. Euro lag. (1)
Die Tage vergehen durch eine den kapitalistischen Gesellschaften innewohnende Steigerungslogik im Takt des technischen Fortschritts und der Leistungsanforderungen, und immer mehr Menschen können dem nicht standhalten. Sie werden krank, brechen zusammen und bekommen z.B. Burnout oder eine Depression.
Leben wir zu schnell? Und wie können wir das ändern?
Nadoldnys Protagonist entschließt sich zur Langsamkeit. Während andere Kinder Ball spielen, hält er nur stundenlang die Schnur, über die gespielt wird, und hat damit keine Probleme. Sein Nicht-Mithalten-Können kompensiert er intelligent.
An mehreren Stellen des Romans gleicht er seine Langsamkeit durch Genauigkeit aus und erwirbt sich so Ansehen und Erfolg. In philosophischem Sinne impliziert dies eine gewisse Freiheit; denn grob gesagt ist frei, wer keinen Zwang mehr verspürt, keinen Zwang mehr mithalten zu müssen und sich selbst ständig steigern zu müssen. Oder wie es der Philosoph Adorno 2009 in einem Interview formulierte, nichts zu tun wie ein Tier es tut, sondern auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, sein, sonst nichts, könnte an die Stelle des Prozesses, des ständigen Machen treten.
Auch andere Philosophen wie z.B. Wadenfels sprechen davon, der Erfahrung Zeit zu lassen und ein gewisses Maß an Langeweile auszuhalten, statt leere Zeit ständig mit kurzweiligen Events zu füllen, denn übereilte Erfahrung ist keine Erfahrung.
Entschleunigt leben in einer beschleunigten Welt besteht in der Fähigkeit, eine Eigenzeit zu finden, bevor wir zwangsweise z.B. durch die Arbeit oder eine Krankheit in eine hinein geraten. Die Eigenzeit, so der Philosoph Nassehi, entsteht durch die Konfrontation mit äußeren Zeitregimes.
Der Protagonist John Franklin hat im Roman seine Eigenzeit gefunden. Die Frage nach der Schnelligkeit ist keine Frage danach, wie schnell ich sein oder werden muss um mitzuhalten, sondern wie schnell mir selbst eigentlich gut tut. Somit ist die Frage nach der Eigenzeit, der eigenen Zeit auch keine Frage von Stressmanagement, sondern eine Frage von täglicher Selbstaufmerksamkeit im eigenen Leben.
(1) Statistisches Bundesamt; Mark, G., Gonzales, M., Harris, J. (2005) No Task Left Behind? Examining the Nature Fragmented Work. Irvine: University of California.